Thriller: Seelenfall – Stimme aus der Ferne (Episode 22)

Episode 22

Stimme aus der Ferne

Weitere vier Wochen waren vergangen und Faith war immer noch nicht aufgewacht. Er hatte ihr beigestanden, hatte ihr täglich Gesellschaft geleistet, so gut er es mit seinen Arbeitspflichten vereinbaren konnte. Seine Stimme hatte dabei jeden Tag zu ihr gesprochen. Und an manchen Tagen kamen bittere Tränen der Trauer zum Vorschein. Sie nach so einer langen Zeit immer noch im Koma schlafend zu sehen, war schmerzhaft und machte ihn tief unglücklich. Er versuchte an die Hoffnung zu glauben, und das jeden Tag aufs Neue, doch es fiel ihm immer schwerer.

Die Hoffnung ließ Jordan jedoch noch lange warten. Denn diese bezaubernde Frau schlief einfach weiter, sie war weit weg von ihm entfernt, in einer Welt der unendlichen Träume gefangen. Jeden Tag stellte der Arzt aufs Neue fest, dass keine Reaktionen und keine neuen Fortschritte zu erkennen waren und ihr komatöser Zustand war seit ihrer Ankunft nahezu unverändert.

Sie atmete ruhig und friedlich und ihre Augen blieben geschlossen. Ihre Ernährung war künstlich und ihre Chancen standen laut Aussagen des Arztes nicht gut. Mittlerweile waren mehr als vier Monate vergangen, in denen die täglichen Besuche im Krankenhaus zum festen Tagesritual Jordans gehörten.

Jordan hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, bei jedem Besuch Faiths mindestens zwei Stunden zu ihr zu sprechen. Er wusste, dass er mit größter Wahrscheinlichkeit keine Antwort von ihr erhalten würde, doch die Hoffnung, dass sie eines Tages erwachen würde, war stets ungebrochen. Er glaubte so sehr an ihr Wiedererwachen, dass er bereit war, immer für sie da zu sein.

Heute wollte er natürlich wieder zu ihr sprechen. Doch an diesem Tag sollte das Gespräch anders verlaufen. Er wollte einen neuen Gesprächsansatz ausprobieren, um sie besser erreichen zu können.
Etwas anderes wie die Tage und Wochen zuvor.
Heute wollte er sie erreichen.

Er berührte ihre Hand und umschloss dann mit seiner rechten Hand sanft ihre linke Hand.
Hallo, ich bin es, Jordan.
Dabei spürte er ihre warme Hand und ihren gleichmäßig ruhigen Puls. Er schwieg eine Weile und ließ die trauervolle Szene auf sich einwirken. Dann sprach er weiter.
Komm ein paar Schritte näher, Faith. Du brauchst keine Angst zu haben.
Jordan wusste nicht, ob er es sich das nur einbildete oder hatte er in diesem Augenblick eine leichte  Reaktion Faiths gespürt? Er spürte eine seltsame Energie, eine Art Lebenszeichen, das durch ihre Hand zu wandern schien. Auch ihre Augenlider zuckten für einen Augenblick.

Unsere Herzen sind eins. Unsere Gedanken fließen aus einer gemeinsamen Quelle. Stell es dir vor, Jordan.
Und er sprach weiter.
Der Ort, an dem du dich befindest, ist eine Zwischenwelt, ein Paralleluniversum. Ein Ort, an den du dich verirrt hast. Alles was du dort siehst, berührst und fühlst, wird sich wie die Realität anfühlen und sich doch wesentlich von ihr unterscheiden. Diese Ebene fasziniert dich möglicherweise und du fragst dich, wieso du das Geheimnis nicht lüften kannst.

Wieder regten sich ihre Augenlider.
Jordan machte eine kleine Pause und fuhr dann fort.

Doch du musst wissen, dass es irgendwo in dieser Welt ein Schlupfloch gibt, aus dem du entkommen kannst, denn dein Körper ist getrennt von deinem Geist. Er befindet sich hier bei deinem Herzen. Du bist auf diesem surrealen Ausflug durch die Tiefen deines Geistes gewandert und du wirst einen Ausweg aus diesem Labyrinth finden. Versuche dich nun auf den Weg zu machen, Faith. Suche nach Hinweisen in deiner Welt der Fantasien. Versuche herauszufinden, wieso du dort gelandet bist. Und komm zu uns zurück. Zu deinen Eltern, zu mir, zu deinem irdischen Leben.

Jordan spürte eine unsichtbare Verbindung zwischen Faith und ihm. Es war, als ob sie ihn hören konnte.
Oder war das nur eine Illusion?
Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Faith war irgendwo da drinnen und hatte ihn gerade deutlich wahrgenommen.
Und während er weiter sprach, veränderte sich seine Stimme in Faiths Anwesenheit und wurde ein Teil dessen, was Faith als das Herz der Hütte wahrnahm. Sie nahm das Herz nicht nur als Jordan wahr, sondern als eine Art Portal, das ihr in Form des Hüters aus diesem Wahnsinn verhelfen konnte.

Mach dich auf den Weg, Faith. Suche nach weiteren Antworten und versuche wieder aus deinem Traum aufzuwachen. Wir alle werden hier auf dich warten.
Faith spürte jetzt zunehmend die Präsenz ihrer Familie, spürte plötzlich die tiefe Trauer und die bittere Wahrheit, dass sie wirklich in einem Traum gelandet war und irgendwo fern von der Realität, die sich unser Leben nannte.

Wie schwer würde dieser Weg raus aus diesem Albtraum sein? Welche Geheimnisse würden sich ihr offenbaren?
Die Zeit würde ihr Antworten liefern. Faith spürte, wie das Herz ruhiger wurde, ehe es sich von ihr verabschiedete.
Lebe wohl, Faith. Und vergiss nicht, dass du dich in einem Traum befindest. Finde eine Möglichkeit, wie du wieder aufwachen kannst.
Das helle Leuchten war jetzt von ihm gegangen. Das Leuchten verwandelte sich in einen schwachen Lichtschimmer. Das magische Herz war irgendwie noch da, denn sie spürte die Energie des Herzens, die die weiße Leere aufrechthielt und auch diese faszinierende Welt, in der sie jetzt lebte.
Und obwohl das Herz pochend und paukend vor sich hinpulsierte, war der Hüter nicht mehr anwesend. Die Präsenz war verschwunden, der Hüter war gegangen. Das Herz würde auf sie warten, falls sie aus dieser Traumwelt entfliehen konnte.

Es wird Zeit, von hier zu verschwinden.
Und so ließ sie das klopfende Herz hinter sich, als sie sich mit rasanter Geschwindigkeit in die weiße Leere davonmachte, fliegend wie ein schneller Wind durch die weiße Fläche rasend, um die Türe zu erreichen, durch die sie dorthin gekommen war.

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Thriller: Seelenfall – Die Jugend (Episode 1)