Thriller: Proband Nr. X-100 – Der ewige Pfad (Kapitel 4)

4. Kapitel

06:30 Uhr – Der ewige Pfad
4 Stunden vor dem Ausbrechen der Viren – Stufe 1

Der Morgen brach an und Lloyd wurde aus der tristen Dunkelheit seiner Gedanken gerissen. Seit der Infektion mit dem Virus waren etwa vier Stunden vergangen. Er lief kilometerweit ins Nichts vor ihm, ohne die geringste Ahnung von seinem Standort zu haben.

Das Virus hatte in der Hütte etwas in ihm ausgelöst, das ihn einige Zeit zum Nachdenken brachte. Lloyd malte sich während seiner Wanderung die verschiedensten Szenarien aus.

Wieso hab ich die Vergangenheit derart real wieder erlebt?

Er konnte nur eine logische Erklärung dafür finden. Durch den hohen Adrenalinausstoß in der Hütte hatte das Virus eine überraschende Nebenwirkung verursacht. Die Folge war ein reales Abbild der Vergangenheit in seinen Gedanken. Lloyd konnte dieses Erlebnis auf eine Stufe mit einer Vision stellen, doch dieser Film hatte sich wirklich ereignet. Dieses Virus hatte demnach die Eigenschaft, vergangene Situationen erneut abzuspielen und diese Revue passieren zu lassen.

Lloyd vermutete, dass diese vergangenen Erlebnisse nur in Ausnahmesituationen wieder erlebt werden konnten.

Ein Deja-Vu meiner vergangenen Erlebnisse. Realer als die Gegenwart.

Lloyd würde zwar nach Einleitung der ersten Stufe der Viren langsam sein Gedächtnis verlieren, doch in Extremsituationen würden seine vorhandenen Erinnerungen zur Realität werden. Bevor er sie endgültig verlieren würde. Und somit seine Menschlichkeit.

In der Hütte hatte er sich wie in einer Zeitreise gefühlt. Obwohl sich sein Körper in diesem abgelegenen Wald befand, war er für einen Moment wie weggetreten. Gefangen in einer vergangenen Traumwelt, die ihm bereits geschehene Erlebnisse im Detail vorgetäuscht hatte. Nach Verlassen der Hütte hatte Lloyd versucht, durch seine Gedanken an frühere Zeiten ein erneutes Deja-Vu hervorzurufen. Doch es hatte nicht funktioniert.

Mit müden Augen schaute er auf das Display seines Handys. Mittlerweile war es kurz nach 06:30 Uhr. Es blieben ihm also noch etwa viereinhalb Stunden übrig. Danach würde das Virus ausbrechen und damit beginnen, seine Existenz auszulöschen. Nach und nach würde sich das Virus seine Erinnerungen holen. Ein Vorgang ohne körperliche Schmerzen, aber trotzdem der größte Verlust im menschlichen Leben. Ein Mensch ohne Gedächtnis war ein Mensch ohne Seele.

Während seiner Wanderung dachte er viel über sein Leben nach. Er machte sich Gedanken um die Menschen, die ihm wichtig waren.

Was wäre, wenn er diese Prüfungen nicht überleben würde? Würde er sagen können, dass sein Leben erfüllt gewesen war? Über diese Frage dachte Lloyd zum ersten Mal nach.

Er lebte bisher nur in den Alltag hinein, doch ob sich sein Leben als sinnvoll bezeichnen ließ, wusste er selbst nicht. Das Leben war von Routine geprägt. Jeden Morgen war er zur Arbeit aufgestanden, hatte seinen Anteil geleistet, um das nötige Geld zum Überleben zu verdienen. In seiner restlichen Freizeit war er seinen Verpflichtungen und Hobbies nachgegangen oder war mit seiner Frau unterwegs gewesen.

Sicherlich würde sie sich große Sorgen um ihn machen, wenn sie wüsste, dass er entführt worden war. Doch es war wahrscheinlicher, dass sie davon ausging, dass er zur Arbeit gegangen war. Sie wusste, dass er nachts bemüht war, sich aus dem Haus zu stehlen, ohne sie wecken zu wollen. Immer wenn sie ihn dann bemerkte, verlangte sie einen Kuss von ihm, bevor er die Türe hinter sich schloss. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie in ihrem Bett lag, ohne den geringsten Gedanken an diese überraschende Entwicklung. Sie hatten in ihrer mehrjährigen Ehe Höhen und Tiefen erlebt, wie in jeder gewöhnlichen Ehe.

Sie war eine bezaubernde Frau für ihn. Ihre langen, braunen Haare, kombiniert mit ihren blauen Augen und ihrem zierlichen Gesicht, machten sie zu einer Augenweide. Trotz ihrer weiblichen Vorzüge war sie immer bodenständig geblieben und hatte keine Anzeichen von Arroganz in ihrem Wesen.

Obwohl sie meistens liebevoll war, konnte sie natürlich auch anders. Manchmal ging ihr Temperament mit ihr durch, was dazu führte, dass sie mit einer energischen Hingabe versuchte, Lloyd in die Schranken zu weisen. In diesen Fällen wusste Lloyd, wie er mit ihr umgehen musste. Ihr war es wichtig, Meinungsunterschiede auszudiskutieren. Manchmal konnte das Lloyd ziemlich auf die Nerven gehen, doch er nahm sich die Zeit, um ihr die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdiente. Besprechen statt Verdrängen war ihre Devise. Lloyd hatte sich während ihrer Ehe nie von ihr gelangweilt gefühlt, da sie denselben Humor hatten und friedlich miteinander leben konnten. Sie verkörperten ein Team und unterstützten und bauten sich gegenseitig auf. Sie gab seinem Leben einen Sinn und machte ihn glücklich.

Doch jetzt war er weit weg von ihr. Er wusste nicht, ob er ihr noch so begegnen würde, wie sie es von ihm gewohnt war. Auch wenn er überleben würde, konnte es möglich sein, dass er nicht mehr als die selbe Person zurückkehren würde. Mit einem verlorenen Gedächtnis würde er sie nicht mehr erkennen. Er würde nicht mehr in der Lage sein, nach Hause zurückzufinden. Der Gedanke machte ihn krank.

Lloyd gehörte zu den Menschen, denen Reichtum nicht sonderlich wichtig war. Ein glückliches und gesundes Leben zu führen bedeutete wahren Reichtum für ihn. Ein erfülltes Liebesleben, aufrichtige und direkte Kommunikation und die Gesellschaft mit den Menschen, die er liebte, waren ihm wichtiger. Alles andere war zweitrangig.

Lloyd wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er in der Ferne neben dem Waldweg einen Laster erblickte.

Er rannte impulsiv auf die Stelle zu, bis seine Venen brannten. Ein Gefühl der Hoffnung machte sich bemerkbar. Seinem Instinkt nach zu schließen, konnte dieser abgestellte Laster der nächste Teil der Prüfung sein.

Auf der Aufladefläche des Trucks waren einige Holzplatten aufgestapelt, die nicht sonderlich interessant waren. Kaum hatte er die Türe geöffnet, stach ihm der schweflig-süß-saure Gestank von verdorbenem Fleisch in die Nasenhöhlen, der Geruch einer verwesenden Leiche. Der tote Körper begann bereits giftige Gase zu produzieren, nachdem er einige Tage dahinvegetiert hatte.

Daher hielt sich Lloyd die Nase mit den Handflächen zu, so gut er konnte.

Am Cockpit des Trucks war ein älterer Mann Mitte Fünfzig teils über dem Armaturenbrett vor dem Lenkrad zusammengebrochen. Seine Arme waren über das Lenkrad hinaus eingesackt. Der Sitzplatz war mit Blut beschmiert.

„Scheiße“, fluchte Lloyd, „ich bin nicht der einzige, den sie hierhergebracht haben!“

Er suchte nach den Ursachen seines Todes und richtete seine Augen auf den Rücken des Mannes. Es war eindeutig eine Menge Blut zu sehen und demzufolge musste er irgendwie verwundet oder angeschossen worden sein, bevor er verblutete. Lloyd lehnte den toten Mann ein wenig nach hinten und schaute auf die Quelle des Todes. Dem Mann hatte jemand in die Magengegend geschossen und nach der Größe der Verletzung zu urteilen, handelte es sich um ein großes Kaliber. Jemand hatte ihn von geringer Entfernung getroffen.

Wie konnte das passieren? Der Mann war an inneren Blutungen gestorben. Seinen Wunden nach zu urteilen, hatte er von Anfang an keine Chance gehabt, diese Verletzung zu überleben. Wer hatte ihm direkt in den Magen geschossen?

Das Fahrzeug schien nicht beschädigt zu sein, lediglich das Armaturenbrett, der Sitz und die Scheibe waren von Blut überströmt. Die Fenster hatten zwar Risse bekommen, aber waren sonst ganz geblieben. Lloyd dachte nach. Möglicherweise befand sich der Auslöser im Inneren des Wagens und gehörte zu einem Mechanismus. Er sah sich weiter im Truck um. Zu seiner Überraschung befand sich der Schlüssel des Fahrzeugs immer noch im Zündschloss. Langsam kam Lloyd ein wahnsinniger Gedanke. Jemand hatte diesen Truck absichtlich hier stehen gelassen. Dieser Jemand gehörte zu den Leuten, die IHN, Lloyd Braxton, hierhergebracht hatten.

Es war ein Teil der Prüfung gewesen, aber nicht für Lloyd. Sie hatten diesen älteren Mann geprüft. Dieser wurde wahrscheinlich mehrere Stunden vor Lloyd in dieser Gegend ausgesetzt und als er das Fahrzeug mit dem Schlüssel bemerkt hatte, erhoffte er sich eine einfache Fluchtmöglichkeit. Doch man hatte den Wagen mit einem Mechanismus ausgestattet, der bei einem Startversuch einen Schuss auf sein Opfer abfeuerte.

Konnte das möglich sein?

Lloyd musste sich vergewissern. Wenn seine Vermutung stimmte, dann würde die versteckte Waffe erneut einen Schuss abfeuern, wenn er den Motor zu starten versuchte. Doch er wollte das nicht riskieren. Das Fahrzeug war eine Falle seiner mysteriösen Entführer. Sie hatten die Hoffnung der Versuchsperson aufflammen lassen und diese in ein tragisches Entsetzen verwandelt. Erst jetzt konnte Lloyd erkennen, dass das Gesicht des alten Mannes von Entsetzen gezeichnet war.

Lloyd überkam ein Kälteschauer.

Was hätte er im Fall des Mannes getan? Hätte er auch versucht, den Truck zu starten?

Wahrscheinlich.

Dieser Mann hatte ihm indirekt das Leben gerettet. Er schloss dem alten Mann die starr geöffneten Augen. Die Organisation, die ihn hierhergebracht hatte, war schuld an dem Tod dieses Mannes. Ihn hätte es genauso treffen können. Er musste vorsichtiger sein und jede Form von Hoffnung beiseiteschieben. Hoffnung konnte seinen Tod bedeuten. Dieser verhängnisvolle Ort war voller unbekannter Gefahren. Lloyd erfüllte dabei nur die Rolle einer Statistik, die der Untersuchung der menschlichen Psyche diente. Daher war er nur eine von vielen Schachfiguren in einem großen, geisteskranken Spiel, bei dem er leicht sein Leben lassen konnte, wenn er seinen Verstand nicht einsetzen würde. Es lag an ihm, diesen Ort lebend zu verlassen. Doch der Zeitdruck quälte ihn, da sich das Virus langsam, aber sicher einen Weg durch seinen Körper bahnte.

Lloyd entschloss sich weiterzulaufen. Die Zeit war sein Feind. Als er ein letztes Mal in den Laster starrte, fiel ihm ein mehrmals gefalteter Zettel auf dem Armaturenbrett auf. Dieser war voller Blutspritzer, doch als er das Papier entfaltete, konnte er die Worte darauf noch erkennen. Er las den an ihn gerichteten Brief mehrmals durch. Die Nachricht war scheinbar vom selben Verfasser geschrieben worden:

Herzlichen Glückwunsch, Mr. Braxton.

Sie haben die erste Prüfung überstanden.

Allerdings sollten Sie nicht übermütig werden. Es gibt noch viele Hindernisse zu bewältigen, die Sie um ihren Verstand bringen werden. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Noch ist es nicht zu spät für Sie. Es dauert nicht mehr lange, bis die Wirkung der Viren freigesetzt wird. Daher möchte ich Ihnen einige Details zur Stufe 2 erklären. Momentan besitzen Sie Ihr vollständiges Gedächtnis. Dieses wird bis zum Beginn der Stufe 2 weiterhin erhalten bleiben.

Der zweite Zyklus der Viren, Stufe 2, befällt Ihr Zentralnervensystem direkt. Das heißt konkret, dass Ihre Erinnerungen einzeln ausgelöscht werden. In dieser Phase ist der Gedächtnisabbau geringfügig und betrifft nur wenige, wichtige Bereiche ihres Gedächtnisses.

Nutzen Sie die Zeit, Mr. Braxton. Für Sie stellt diese das kostbarste Gut dar. Folgen Sie der Route und laufen Sie weitere zehn Kilometer in das nutzlose Nichts vor Ihnen. Dort wird Sie ihre nächste Prüfung erwarten.

Es liegt an Ihnen, wie viel Zeit Sie für Ihren Weg vergeuden. Wie Sie sehen, hat Ihr Vorgänger (Proband X-45) den Laster als Fluchtmöglichkeit nutzen wollen. Ein trauriger Anblick, nicht wahr? Überlegen Sie sich daher genau, wie Sie handeln.

Jede falsche Handlung könnte Ihren Tod bedeuten.

Lloyd konnte es nicht fassen. Diese Leute schreckten vor rein gar nichts zurück. Sie amüsierten sich darüber, wie Menschen einen qualvollen, unehrenhaften Tod starben.

Doch der miese Bastard hatte Recht. Er musste weiter.

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