Thriller: Realitäten eines Androiden – Das Gedächtnis-Terminal (Episode 9)

Episode 9

Das Gedächtnis-Terminal

Das Gedächtnis-Terminal war ein mächtiges, technologisch ausgefeiltes Werkzeug, das Dr. Brievs und eine Reihe weiterer, hochrangiger Robotec-Wissenschaftler gemeinsam entwickelt hatten. Mit einer ausgeklügelten Software stellte dieses Computerprogramm die neueste Innovation in Bezug auf die Gestaltung neuartiger Gedächtnissequenzen und Bewusstseinszustände für künstliche Intelligenzen aller Art dar.

Ein pragmatisches System, mit dem Androiden und Humanoiden ein individuelles, menschliches Bewusstsein und ein dazu passendes Gedächtnis erlangen konnten. Ihre Realität und ihr Leben konnte mit diesem Terminal mit chirurgischer Genauigkeit und nach Belieben verändert und an die Wünsche der Kunden und an laufende Aufträge angepasst werden.

Eine Operationsbasis derjenigen, die Gedanken, Erinnerungssequenzen und die Zukunft der künstlichen Intelligenzen aktiv beeinflussen konnten, vorausgesetzt, sie waren für die höchste Autoritätsstufe Eins befugt. Bestimmt waren dafür nur eine Hand voll der ranghöchsten Wissenschaftler, unter anderem Dr. Brievs und der psychologische Betreuer Jeff Revven, der sowohl für künstliche Intelligenzen, als auch für Menschen der Robotec-Firma den Seelendoktor spielen sollte.

Jeff war nach dem kritischen Gespräch mit dem Forschungsleiter Dr. Brievs wieder in sein Büro zurückgekehrt. Nr. 299 alias Valery Falles blickte voller Sorge auf Jeff Revven, der gute und schlechte Nachrichten für sie mitgebracht hatte.
„Setz dich, Vally. Ich habe mit Dr. Brievs über deine Anomalie gesprochen. Lass uns darüber reden.“
Vally wirkte besorgt, nervös und verängstigt. Sie setzte sich auf eines der beiden Sofas, die von einem Tisch in der Mitte getrennt waren. Jeff nahm auf dem Sofa gegenüber Platz.
„Ich weiß, was jetzt kommen wird, Jeff. Der Doc hat mit Sicherheit beschlossen, mich auf Reset zu setzen, weil ich seine vorgesehenen Anweisungen nicht befolgt habe.“
Jeff war fasziniert darüber, wie realistisch sie ihre kritische Situation einschätzte.

„Doktor Brievs wollte dich auf Reset setzen, das ist korrekt. Er sieht dich als mögliche Gefahr, weil du es geschafft hast, deine Programmierung zu umgehen, als es darum ging, wichtige Anweisungen zu befolgen. Jedoch konnte ich ihn überzeugen, von einem Full Reset abzusehen.“
Vallys trauriges Gesicht hellte sich ein wenig auf.
War das ein Anflug von Hoffnung in ihrem hübschen Gesicht?
Auf Jeff machte sie jedoch immer noch einen misstrauischen Eindruck.
„Das hört sich vielversprechend an, doch was ist der Haken an der Sache?“, fragte sie ihn direkt.
Jeff schwieg einen Moment, bevor er weiter sprach.

„Ich werde Veränderungen am Gedächtnis-Terminal vornehmen müssen. Dein Gedächtnis-Speicher muss von mir bearbeitet und modizifiert werden, um zukünftige Verstöße zu vermeiden. Das war der Deal.“
Die Angst schlich sich wieder in Valerys Gesicht.
„Du willst mein System überarbeiten und mich meiner Entscheidungsfähigkeit berauben? Ich verstehe. Damit ich gefügig gemacht werde. Und tue, was man mir aufträgt. Das ist es doch.“
„Hör bitte zu, Vally. Ich habe darum gekämpft, dass du keinen Reset erhältst. Dr. Brievs hat darauf bestanden und ich konnte ihn nur mit Mühen umstimmen. Stattdessen habe ihm vorgeschlagen, dass wir Modifikationen an dir am Gedächtnis-Terminal vornehmen, damit du deine Persönlichkeit und deine Erinnerungen behalten kannst. Es wären kleine Eingriffe in deinem Gedächtnisimplantat. Du wärst danach immer noch du selbst. Ist es das nicht wert?“, fragte Jeff sie.

„Du verstehst nicht, was das aus mir macht, Jeff.“
Künstlich produzierte Tränen wanderten durch die ausgelösten Emotionen aus ihren tiefblauen Augen.
„Ich würde Anweisungen befolgen müssen, die ich moralisch nicht vertreten kann und würde nichts mehr dagegen unternehmen können. Das Schlimme ist, dass ich tief in meinen gefangenen Gedanken wüsste, dass es falsch ist und ich dabei zusehen müsste, wie ich blind Befehlen folge. Ich wäre eine Sklavin menschlicher Entscheidungen, die in meinem Namen getroffen werden. Eine Marionette, nichts anderes.“
„Du wirst keine Marionette sein, und die Entscheidungen, die du treffen wirst, werden die deinigen sein. Es ist nötig, Val. Es tut mir leid, dass es so kommen musste, aber ich finde, dass du eine zweite Chance verdient hast. Ich verspreche dir, dass es weniger schlimm sein wird, als du es annehmen wirst. Ich werde mich persönlich um dich kümmern und deine Fortschritte assistieren und dokumentieren.“

Während Dr. Brievs ihrem Gespräch lauschte und die Videoaufzeichnung aus der Sicht von Jeff Revven aus seinem Büro heraus beobachtete, bemerkte er nicht, dass Jeff ihr beim Blick in ihre strahlend blauen Augen eine Botschaft sandte.
Ein Bruchteil einer Sekunde in seiner Mimik, die mehr aussagen konnte als Tausend Worte. Sein Blick versicherte ihr: Du bist sicher, dafür werde ich sorgen.

Der Doc bekam in diesem wichtigen Moment von Jeffs inneren Gedanken und Plänen nichts mit, denn Worte waren nicht das Einzige, worauf sich ein Mensch verlassen konnte. Hätte sich der Doc dafür entschieden, die Videoaufzeichnung der Androidin Nr. 299 anzusehen, hätte er die Veränderung in Jeffs Mimik vielleicht erkannt, vielleicht aber auch nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste auch Jeff nicht, wie er Vally aus dieser prekären Lage helfen konnte, ohne sie nachhaltig zu verändern.

Als Brievs sich ein Sandwich in seinen Mund stopfte, das ihm seine persönliche Androidin des Prototyps Sara mit eigenen Händen zubereitet hatte, bemerkte er die Anomalie in Jeffs überwachendem System nicht, das Einfluss auf seine weiteren Handlungen im Fall Valery Falles haben würde.

Das Gedächtnis-Terminal würde Jeff selbstverständlich nutzen, um Vally zu einer Besserung zu führen. Damit der Doc zufrieden war und sein Fokus auf Vally eines Tages wieder verschwinden würde. Doch Vally erkannte in diesem zeitlosen Moment etwas am Blick ihres psychologischen Betreuers Jeff Revven, das ihr Mut machte. War es Einbildung oder eine weibliche Intuition, die sie als Androidin der neuesten Generation wahrnehmen konnte?

Hatte sie etwas Gütiges in seinem Blick erkannt, dem sie vertrauen konnte? Sie konnte es sich nicht wirklich erklären, denn sie war eine künstliche Intelligenz. Etwas war jedoch geschehen. Eine Entscheidung hinter dem Vorhang des Pflichtbewusstseins war gefallen.

Doch Vally hatte ihr Schicksal akzeptiert, als sie sich auf die elektrische Liege neben dem Gedächtnis-Terminal legte. Jeff sprach beruhigend auf sie ein, als er ihr vorsichtig die Systemverbindungskanüle in den Anschlussport in ihrem Hinterkopf schob. Das Einrasten der Kanüle und das darauffolgende Klicken vollendete den Vorgang. Das Gedächtnis-Terminal war jetzt mit ihrem System verbunden.

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Realitäten eines Androiden – Umprogrammierung (Episode 10)

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