Thriller: Seelenfall – Die Verlegung (Episode 30)

Episode 30

Die Verlegung

Am Tag vor der Abschaltung erwachte Faith aus einem düsteren und unruhigen Albtraum, der sie wieder in die Realität der dunklen Höhle holte, in der sie nun seit Jahren gefangen war. Seit ihr die strahlende Lichterscheinung zum ersten Mal erschienen war, um sie per Live-Übertragung über das aktuelle Geschehen im Krankenhaus zu informieren, wartete sie täglich darauf, dass das Licht wieder auftauchte, um ihr etwas aus der Welt der Lebenden zu zeigen. Doch die Lichtkugel war nur einmal gekommen, um ihr zu zeigen, wie rührend sich Jordan um sie kümmerte und dass die Abschaltung ihrer lebenserhaltenden Maschinen bevorstand. Danach verschwand der schwebende Lichtprojektor für eine lange Zeit und die Hoffnung versiegte.

Als sie an diesem heutigen Morgen erwachte, war die mysteriöse, schwebende Lichterscheinung wieder anwesend und blendete ihre müden Augen, die sie sogleich zusammenkniff. Faiths Augen brauchten einige Zeit, bis sie einen Blick auf die Höhlenwand riskieren konnte und nun verfolgte sie fasziniert die surreale Szene, die durch die Lichterscheinung als Projektion auf die Wand übertragen wurde. Sie beobachtete Jordan dabei, wie er sich mit seinem Kumpel aus dem Club in einem weißen Transporter dem Krankenhaus näherte. Soweit sie sich erinnerte, handelte es sich um seinen Kumpel Westhill, wie ihn Jordan und seine Freunde nannten.

Der Sonntagmorgen war mild und sonnig und als sie aus dem Wagen stiegen, fiel ihr auf, dass der Transporter provisorisch als Notarzttransporter getarnt war, behelfsmäßig mit den Worten Rettungsdienst und Notarzt abgeklebt. Die orange-roten Streifen an den Seiten des Transporters erweckten auf den ersten Blick, dass es sich tatsächlich um einen Notarztwagen handelte.

Sie stiegen aus dem Transporter aus und hoben eine provisorische Liege aus dem Wagen und rollten sie eilig in den Eingangsbereich. Während sie die Rettungsaktion von Jordan und Westhill weiter verfolgte, kamen ihr unerwartet Tränen aus den Augen, da ihre Emotionen sie überwältigten. Sie wusste, dass die Abschaltung der lebenserhaltenden Maschinen unmittelbar bevorstehen musste und dass Jordan jetzt alles aufs Spiel setzte, um ihren Tod zu verhindern.

Währenddessen konzentrierten sich Jordan und Westhill weiterhin auf ihren Plan. Sie liefen mit ihren langen Chemikerkitteln eilig am Personal des Empfangs vorbei, ohne die Empfangsdamen eines Blickes zu würdigen. Am Aufzug betätigten sie den Knopf zum Herbeirufen der Kabine und warteten ungeduldig. Bisher lief alles glatt. Sie stiegen ein und fuhren in die Zieletage, als ein Chefarzt ihnen beim Ausfahren entgegenkam.

„Sind Sie wegen der Verlegung des Patienten Drosloff in das Zimmer 247.A unterwegs?“, fragte Dr. Leumund die beiden Jugendlichen.
Jordan und Westhill versuchten sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie nickten und versuchten, professionell zu bleiben. Jordan fiel das Namensschild des Arztes auf und er konnte sich denken, dass dieser Doktor einiges zu sagen hatte.
„Guten Morgen, Herr Dr. Leumund. Genau, wir sind wegen dem Patienten Drosloff hier.“

Der Doktor wirkte irritiert.
„Die Verlegung sollte meines Wissens erst um 12.00 Uhr erfolgen. Sie sind zu früh da. Bitte warten Sie auf meine Anweisungen und kümmern Sie sich solange um die Patientin Marianne Breslau, die unverzüglich auf die Intensivstation verlegt werden sollte.“
Westhill schaute Jordan fragend an und versuchte seine Angst zu verbergen. Jordan nickte ungeduldig.
„Wir kümmern uns umgehend um Frau Breslau. Ihnen einen schönen Tag.“

Der Chefarzt nickte und verschwand endlich im Aufzug und die beiden konnten ihren Gang durch den breiten Krankenhausflur in Richtung von Faiths Zimmer fortsetzen.
„Das war ganz schön knapp, Jordan. Fast wärs um uns geschehen.“
Westhill liefen die Schweißperlen über die Stirn.
„Du hast recht, aber beruhige dich. Lass uns das schnell hinter uns bringen.“

Sie eilten weiter in das Zimmer 260.B und erreichten Faiths Krankenbett. Sie stellten sich neben ihr auf und sahen ihren hilflosen Zustand. Morgen um diese Uhrzeit würde sie nicht mehr hier sein. Als Westhill die ganzen Schläuche und Nadeln in Faiths Körper sah, wurde ihm schlecht.
„Wie sollen wir Faith auf unsere Trage bringen, ohne dass die ganzen Schläuche und Nadeln aus ihr herausgleiten?“, fragte Westhill unsicher.
Jordan zögerte einen Moment.
„Wir werden unsere Trage direkt daneben stellen und ich werde sie dann anheben und auf unsere Trage legen. Du schaust währenddessen nach den Nadeln und Schläuchen. Wir schaffen das.“

Jordan hob sie vorsichtig unter dem Nacken, den Schultern und an den Kniekehlen an und legte sie vorsichtig auf der mitgebrachten Trage ab, während Westhill die Schläuche und Nadeln in den richtigen Winkel neigte und sie mit auf die Trage führte. Jetzt mussten sie nur noch die lebenserhaltenden Maschinen mitnehmen. Sie konnten von Glück reden, dass Faith keine Mitpatienten im Zimmer 260.B hatte. Jordan durchsuchte noch die Schränke nach einigen Behältern der Flüssignahrung, die Faith verabreicht wurden. Diese Flüssignahrung war mit allen wichtigen Proteinen, Vitaminen, Fetten, Kohlenhydraten und Wasser versetzt, die der Körper zum Überleben brauchte.

Als sie den Raum samt der lebenserhaltenden Maschinen verließen, war der Flur frei vom Krankenhauspersonal. Sie beeilten sich, so gut sie konnten, als sie den Aufzug herbeiriefen, um den rettenden Ausgang zu erreichen, ohne Dr. Leumund erneut zu begegnen. Sie hatten es fast geschafft und Westhill konnte man die Nervosität im Gesicht deutlich ansehen. Jede Minute zählte.

Als der Aufzug im Grundgeschoss zum Stehen kam und die Türen sich öffneten, lief ihnen Dr. Leumund wieder über den Weg. Als er bemerkte, dass sie die kritische Koma-Patientin Faith dabei hatten, stellte er sie zur Rede.

„Was zum…tun Sie hier? Ich hatte Ihnen doch aufgetragen, dass sie Frau Breslau auf die Intensivstation verlegen sollen“, fragte er sie misstrauisch.
Jordan wusste nicht mehr, wie er reagieren sollte. Dass der Chefarzt genau in diesem Moment wieder erschien, war sehr ungünstig.

„Entschuldigen Sie uns, Dr. Leumund. Wir müssen vorher diese Patientin in ein anderes Krankenhaus überführen. Befehl von ganz oben. Danach kümmern wir uns darum.“
Der Doktor war in Alarmbereitschaft. Dass irgendwas nicht stimmte, konnte er auf den ersten Blick erkennen.
„Warten Sie hier bitte einen Moment. Das muss ich überprüfen.“
Der Chefarzt lief mit schnellen Schritten zum Empfang und sprach mit den dortigen Mitarbeiterinnen. Als die Mitarbeiterin an ihrem Computer nach weiteren Informationen suchte, wartete der Chefarzt ungeduldig neben ihr.
Diesen Moment nutzten die beiden Jugendlichen aus, um sich wieder in Bewegung zu setzen.

Als sie fast am Ausgang waren, wurde Westhill, der die lebenserhaltenden Maschinen vor sich hinschob, von dem Chefarzt an der Schulter gepackt und zum Stillstand gezwungen. Jordan hörte sofort auf, die rollbare Trage zu schieben und bemerkte das Malheur, in dem er und Westhill sich befanden. Seinem Gesichtsausdruck nach flehte er Jordan an, etwas zu unternehmen.
Als Jordan sah, wie sich weitere Mitarbeiterinnen der Rezeption näherten, fühlte er sich gezwungen, zu handeln. Sonst würde er Faith verlieren, hier und jetzt. Er packte den Doktor an den Schultern und drängte ihn rückwärts, bis er das Gleichgewicht verlor und auf den Boden fiel. Zu seinem Glück kein schwerer Sturz.

Diesen Augenblick der unüberlegten Wendung nutzte Jordan, um den befreiten Westhill zum Weiterlaufen zu bewegen.
„Wir haben es fast geschafft, Westhill. Lass uns das zu Ende bringen.“
Sie verließen das Krankenhaus und öffneten die Türen des Transporters und luden Faith mitsamt der Ausrüstung in den Wagen.

Als sie fertig mit dem Verladen waren und Faith abgesichert hatten, waren bereits etliche Mitarbeiter vom Krankenhauspersonal unterwegs, um sie empört und hektisch von ihrem dümmlichen Vorhaben abzuhalten. Doch sie hatten sich zu lange Zeit gelassen, Jordan und Westhill waren bereits in den Transporter gestiegen und bereit, Faith an einen sicheren Ort zu bringen.

Mit quietschenden Reifen rasten die beiden im letzten Moment davon und hörten von der Ferne nur noch den Klang der sich nähernden Sirenen, die Schlimmeres verkündeten. Jordan hatte eine Grenze überschritten und Westhill mit in seine Welt der drohenden Probleme hineingezogen. Westhill, der noch nie auf die schiefe Bahn geraten war, stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

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Thriller: Seelenfall – Die Jugend (Episode 1)