Thriller: Proband Nr. X-100 – Verloren (Kapitel 1)

1. Kapitel

02:45 Uhr – Verloren

Verloren in der Dunkelheit, mit all den Geheimnissen der Nacht. Unersetzbare Erinnerungen, die in der nahen Ferne verblassen würden.

Der kühle und tosende Wind verstärkte die düstere Atmosphäre, als sein Mobiltelefon ihn aus einem tiefen Schlaf weckte. Das Läuten seines Weckers war die Ankündigung zur Arbeit. Normalerweise stellte sich Lloyd immer zwei Wecker, um Verspätungen zu vermeiden. Den ersten Wecker hatte er heute aber überhört.

Die Nachtschicht in der Bank konnte beginnen. Lloyd Braxton war Sicherheitsofficer einer wohlhabenden und weltweit vernetzten Bank, die Dutzende von Sicherheitsleuten eingestellt hatte, um ausreichende Sicherheit zu gewährleisten. Er war für den Nachtüberwachungsdienst zuständig und kümmerte sich darum, die Sicherheit auch in der Nacht zu bewahren. Ein einfacher Job, der bis jetzt glatt gelaufen war. Bis zu diesem Zeitpunkt.

Lloyd bemerkte, dass sein ganzer Körper gelähmt war. Als er mit müden Gedanken seine Augen öffnete, erkannte er, dass dieser Ort nicht seiner ihm bekannten Umgebung entsprach. Seine Sinne waren benebelt. Er spürte nur die eisige Kälte und erkannte die Dunkelheit der Nacht.

Seine Gedanken schienen nicht klar zu sein. Lloyd fühlte sich schwer und konnte sich nur mit Mühe aufrichten.

Langsam rappelte er sich auf und zog sein Handy aus seiner Tasche. Auf dem Bildschirm nahmen die Ziffern langsam Formen an. Das am Anfang verzerrte Bild wurde immer deutlicher, bis er die Uhrzeit ablesen konnte.

02:45 Uhr.

Eine unwirtliche Zeit, zu der er sich normalerweise richtete, um zur Bank zu fahren. Besser gesagt, hätte er schon um 02:30 Uhr wach sein müssen, doch der erste Wecker hatte ihn heute nicht wecken können. Erst der zweite Wecker um 02:45 Uhr hatte ihn aus dem Schlaf reißen können. Was für ihn schon recht ungewöhnlich war. Er schaltete den Wecker aus und versuchte zu verstehen, wo er sich befand.

Aus irgendeinem unerklärlichen Grund war er nicht in seinem Bett aufgewacht. Stattdessen befand er sich draußen, in der Natur und auf dem kühlen Boden eines unbekannten Ortes. Lloyd konnte sich nicht erklären, was mit ihm geschehen war.
Hatte man ihn entführt? Wie war er hierhergekommen?

Vielleicht konnte er sein Handy benutzen, um zu verstehen, was in der letzten Nacht passiert war. Lloyd wurde enttäuscht, als er zu seinem Unglück bemerkte, dass es momentan keinen Empfang gab.

Immer wenn man sie braucht, sind diese Teile nicht zu gebrauchen, dachte sich Lloyd enttäuscht.

Ohne Empfang würde sich seine derzeitige Situation als weitaus komplizierter erweisen, als sie es bisher schon war. Lloyd würde allein klarkommen müssen. Da er keine Möglichkeit hatte, jemanden zu kontaktieren, beschloss er, sich auf die Suche nach Hinweisen zu machen. Lloyd hoffte, dass ihm jemand erklären konnte, wo er sich befand. Es interessierte ihn, wieso man ausgerechnet IHN an diesen Ort gebracht hatte.

Mittlerweile war sein Zustand wieder besser geworden. Er ruhte sich noch etwas aus und konnte wieder klarer denken. Die Lähmung seines Körpers ließ nach und er wusste, dass er handeln musste. Er lief einen mit Kies und Steinen bedeckten Weg entlang. Zu beiden Seiten des Weges waren nur Wiesen und Bäume zu sehen, begleitet von der Finsternis und den Geräuschen der Natur. Das Jaulen einiger Wölfe und das Zirpen von Grillen bewirkten eine surreale und furchteinflößende Stimmung.

Als er in der Ferne die Umrisse eines kleinen Waldhäuschens sah, wurde er motiviert, schneller zu laufen, bis er sich dem Gebäude näherte und erkannte, dass die Fenster des Waldhauses mit Holzplatten zugenagelt waren, sodass er keine Einsicht in das Haus hatte. Er hielt vor der Tür an und lauschte.

Lloyd hörte ein eintöniges und gleichmäßiges Klicken im Innenraum, vergleichbar mit einer tickenden, altertümlichen Standuhr.

Ein kleines Waldhaus. Was verbirgt dieser Ort? Vielleicht finde ich jemanden, der mir das alles erklären kann.

Er versuchte sich in seinen Gedanken vorzustellen, was sich hinter der Türe verbergen könnte. Doch diese Vorstellung war in seinem Kopf mit einem Happy End verbunden.

Es wird sicher eine Erklärung für das alles geben. Danach werde ich zur Arbeit fahren und diesen Tag aus meinem Kalender streichen.

Lloyd versuchte seine Gedanken zu verdrängen und umklammerte den Eingangsknauf der Türe. Mit seiner Hand drehte er an dem altmodischen Knauf und stellte begeistert fest, dass sich die morsche Türe öffnen ließ.

Es entstand ein schrilles und ächzendes Geräusch, als er die Türe öffnete. Lloyds Blick wanderte durch den Raum, der mit schwachen Lampen ausgestattet war. Die leuchtenden Lampen schienen einen leichten Defekt zu haben, da sie hin und wieder ausgingen und zu flackern begannen. Das Haus schien verlassen zu sein.

In der Mitte des Raumes befand sich ein größerer Tisch mit hölzernen Stühlen. Der Tisch war überfüllt mit alten Tellern, auf denen vor nicht allzu langer Zeit gespeist wurde. Im hinteren Bereich befand sich ein uraltes Sofa, das von Rissen und Unreinheiten bedeckt war. Vor dem Sofa war ein Fernseher der älteren Generation aufgestellt. Man hatte ihn auf einem kleinen Tisch abgestellt, der nicht gerade stabil aussah.

Außerdem konnte er ein Bett mit einer schmutzigen Matratze erkennen, das vor eine Tür geschoben wurde und den Weg in ein weiteres Zimmer versperrte. Bei näherem Hinlauschen bemerkte Lloyd, dass genau aus diesem Raum das Klicken kam, das er vor dem Eingang noch deutlich leiser gehört hatte. Das gleichmäßige Klicken ertönte nahezu im Sekundentakt und war jetzt eindeutig zu hören.

Es hört sich fast nach einem Countdown an. Es könnte aber auch nur eine Uhr sein.
Während er sich weiter in dem Zimmer umsah, wurde er auf einen Zettel aufmerksam. An einer unauffälligen Stelle unter einem zerbrochenen Bilderrahmen hatte man einen Zettel angebracht.

Ist diese Nachricht für mich? Oder handelt es sich um eine uralte Nachricht von den Vorbesitzern?

Er nahm den Zettel zu sich und setzte sich auf einen der Stühle. Der Brief war an ihn gerichtet. Jemand hatte seinen Namen an die Spitze des Briefes gesetzt und wusste demnach, dass er hier war. Er las sich den Inhalt des Briefes mehrmals durch. Die Zeilen hämmerten sich in seinen Schädel, während er ins Schwitzen kam. Lloyd bekam es mit der Angst zu tun.

An Lloyd Braxton

Ihre Zeit ist gekommen, Mr. Braxton.

Sie werden sich wahrscheinlich gewundert haben, als Sie aufgewacht sind. Wieso hat man Sie unwissend und alleine an diesen verlassenen Ort gebracht?

Sie tragen seit Jahren eine Bürde mit sich, die durch unvorhergesehene Ereignisse in ihrem Leben zu verhängnisvollen Verlusten geführt haben, die nicht wieder rückgängig gemacht werden können. Für diese Entscheidungen werden Sie jetzt bezahlen.

Unsere Mittelsmänner haben Sie entführt und an diesen fast verlassenen Ort gebracht. Ob Sie von diesem Ort entkommen können?

Es liegt hauptsächlich an Ihnen, aus diesem Labyrinth zu entkommen, das wir für Sie vorbereitet haben. Dieser Ort dient der Untersuchung der menschlichen Psyche unter Stresssituationen, für militärische und wissenschaftliche Zwecke.

Daher haben wir uns das Recht genommen, Sie mit einem Virus zu infizieren, während Sie geschlafen haben. Dieses Virus schaltet nach und nach Ihr Gedächtnis aus. Das Virus verstärkt seine Wirkung innerhalb von 6 Phasen, die insgesamt 48 Stunden andauern. Es wird alle acht Stunden eine Phase aktiviert. Die erste Phase hat noch keine Auswirkungen auf Ihr Gedächtnis, daher bleiben Sie in den ersten acht Stunden noch voll leistungsfähig und genießen Ihr volles Gedächtnis.

Nach etwa acht Stunden setzt das Virus ein. Sie werden nach und nach vergessen, wer Sie sind und wer Sie einmal waren. Alle vorhandenen Gedächtnissequenzen werden, ähnlich wie in einem Programm, aus ihrem Gehirn entfernt. Es liegt an Ihnen, ob Sie am Ende noch wissen, wer Sie sind.

Am Ende der Prüfungen erwartet Sie das Gegenmittel, das den Löschprozess beenden kann. Ihre bis dahin vergessenen Erinnerungen können Sie dadurch aber nicht mehr retten. Eile ist also angebracht. Außer Sie wollen bei Null anfangen.

Schauen Sie sich um, Mr. Braxton. Es könnten überall Gefahren lauern.

Lloyd las den Brief immer wieder von Neuem durch. Er bekam es mit der Angst zu tun. Es konnte sich nicht mehr um einen Scherz handeln.

Diese Leute meinen es ernst. Ich wurde infiziert. Vollgepumpt mit Narkotika. Und anschließend haben sie mich aus dem Haus geschleppt. Diese elendigen Hunde!

Pochend wurde ihm die Realität in das Bewusstsein gehämmert. Seine Frau. War sie in Sicherheit? Sein Herz hämmerte intensiver und pumpte ihm das Blut schneller durch die Adern. Seine Hände zitterten, als er den Brief in den Händen hielt.

Dann erinnerte sich Lloyd, dass sie ihren Eltern einen Besuch abgestattet hatte.

War sie nachts noch vorbeigekommen? Oder hatte sie sich entschieden, länger bei Ihren Eltern zu bleiben?

Lloyd konnte nur beten. Er schaute sich den Brief genauer an. Die letzte Zeile.

Es könnten überall Gefahren lauern.

Und genau in diesem Moment hörte er ein weiteres Klicken im Hintergrund. Das Schloss der Eingangstüre war soeben zugefallen.

Der Test hatte begonnen.

Sein Gedächtnis, seine Persönlichkeit und alle Erinnerungen seines Lebens waren gefährdet. Ein Kampf gegen die Zeit begann.

Sein Überlebenstrieb und die Gedanken an seine Frau gaben ihm neue Kraft. Er musste hier einfach raus. Sterben wollte er nicht. Lloyd würde alles dafür tun, um von diesem Ort zu entkommen. Er hielt einen Moment inne, um sich zu beruhigen und seine Gedanken zu ordnen, bevor er seine nächsten Schritte plante.

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