Thriller: Seelenfall – Die Entscheidung (Episode 28)

Faiths Augen hatten sich schon seit geraumer Zeit an die dunkle Umgebung der Höhle angepasst und obwohl sie die meiste Zeit im Schlaf verbrachte, konnte sie in den wenigen wachen Augenblicken hervorragend im Dunkeln sehen. Als das wundersame Ereignis eines Tages ihre Augen vor eine neue Herausforderung stellte, waren bereits weitere lange und mühsame Jahre voll Schlaf und Tränen vergangen. Sie hatte kein Gespür mehr für die Zeit, die Tage schienen unendlich lang, sie konnte nicht mehr einschätzen, wann ein Monat vergangen war, wann ein Jahr. Doch kam ihr die Zeit hier an diesem einsamen und düsteren Ort wie eine Ewigkeit vor. Sie fühlte sich, als wäre ein halbes Jahrzehnt am Abgrund der Dunkelheit vergangen.

Als das strahlende Licht in der Dunkelheit an einem der endlosen Tage plötzlich in der Höhle erschien, ihre Augen blendete und die Höhle überraschend erhellte, war sie nicht darauf vorbereitet und innerlich erwachte eine längst verlorene Freude in ihr, als sie begriff, dass in dieser kläglichen Höhle endlich etwas passierte, was über Dunkelheit und Stille hinausging. Als natürliche Reaktion kniff sie ihre Augen fest zusammen und versuchte mit ihren Händen die Lichtquelle abzudecken. Nachdem sich ihre Augen an die neue Helligkeit gewöhnt hatten, konnte sie eine strahlende Projektion an der Höhlenwand erkennen, die in detaillierter Bildqualität per Videoübertragung eine Szene aus dem Krankenzimmer zeigte, in dem sie hilflos und friedlich im Koma lag. Neben ihr konnte sie Jordan auf einem der Besucherstühle erkennen, der geduldig auf ihr Zurückkommen wartete, zu ihr sprach und ihr aus Büchern vorlas.

Er besuchte sie täglich, um bei ihr zu sein und um sie in Gedanken zu unterstützen. Es war schön und traurig zugleich, mitanzusehen, wie sehr er an ihre Rückkehr glaubte. Doch sie war sein letzter Hoffnungsschimmer, den er nicht aufgeben wollte. Also hielt er an dem Gedanken fest, dass sie bald wieder zurückkehren würde.

Auch nach einigen weiteren mühseligen Monaten, versuchte er keinen Tag auszulassen, soweit es von den Besuchszeiten und seinen Verpflichtungen her möglich war. Aus wenigen Monaten wurden jedoch viele Monate, bis sich das erste Jahr vervollständigte. Er hatte Faiths Eltern mit zahlreichen Bitten dazu überreden können, den Ärzten zu vermitteln, dass sie mit einer Abschaltung der Maschinen nicht einverstanden wären, obwohl sie immer weniger an ein Wunder glaubten.

Dies war nach einem Jahr zur Debatte gekommen, da die Ärzte eine Rückkehr für immer unwahrscheinlicher hielten und zu einer Abschaltung rieten.
Das könne man einem Menschen nicht antun, hieß es von seiten der Fachärzte.
Ihr Zustand sei verheerend, ihre Muskeln hatten sich durch die fehlende Bewegung drastisch zurückentwickelt und abgebaut und die künstliche Ernährung durch Kanülen und Nadeln würde auf Dauer zum Problem werden.
Auch wenn sie wie durch ein Wunder erwachen sollte, würde sie voraussichtlich mehrere Monate lang nicht mehr laufen können, starke Bewegungseinschränkungen und eine Amnesie, sowie weitere Psychosen wären nicht auzuschließen. Zudem würde sie auf ungewisse Zeit zu einem Pflegefall der höchsten Stufe werden.

Nach Einschätzung der Ärzte gab es für Faith wenig bis keine Hoffnung mehr. Die Aussagen über ihren Zustand waren nachvollziehbar und dennoch kühl, rational und beängstigend und lähmten Jordans Hoffnung für einige Tage. Seine Überzeugung, dass Faith eines Tages wieder erwachen würde, war zu seiner persönlichen Wahrheit geworden und half ihm über die mutlosen Tage hinweg. So überzeugten ihn die Einschätzungen für Faiths Zustand nicht, auch wenn sie möglicherweise der Wahrheit entsprachen. Er wollte für ihr Leben kämpfen und selbst wenn ihre Eltern zunehmend den Glauben an ihre Tochter verloren, würde Jordan sie nicht aufgeben.

Er würde sie nicht im Stich und sie ihrem Tod überlassen, sondern würde sich für sie einsetzen, selbst wenn niemand mehr seinen Rücken stärkte. Nachdem das erste lange und schleppende Jahr vergangen war, glaubte Jordan noch immer ungebrochen an Faiths Rückkehr. Ihr Zustand verbesserte sich nicht und so wurden aus einem Jahr schon bald zwei Jahre und es wurde immer schwieriger für Jordan, Faiths Eltern zu überzeugen. Sie waren die Entscheidungsträger, wenn es um Faiths Zukunft ging, sie konnten darüber entscheiden, ob Faith lebte oder starb. Die Fachärzte glaubten nicht mehr an ein Wunder, und bei den Gesprächen zwischen Faiths Eltern und den Ärzten kristallierte sich mit der Zeit immer mehr heraus, dass sie sich einig wurden. So schmerzhaft es auch war, es würde geschehen müssen. Faith zuliebe.

Für Jordan war das ein Tiefschlag, ein freier Fall im aufstrebenden Luftstrom der Hoffnung, der ihn wieder in ein tiefes Loch zu stürzen drohte.

Wie konnten sie sich dafür entscheiden, ihre Tochter sterben zu lassen? Wer gab ihnen das Recht, über Leben und Tod zu bestimmen?
Es war ihre einzige Tochter, es war die bezaubernde Faith, über die sie da sprachen. Als sei sie etwas Belangloses, das man ein- und ausschalten konnte, wie man wollte. Es ging hier um ihr wertvolles Leben. Er würde das unter keinen Umständen zulassen, dass sie die Maschinen abschalteten und ihren Körper sterben ließen.

Es gab hier und dort Streitereien, als sich Jordan verstärkt in die Entscheidung ihrer Eltern und in die Gespräche der Ärzte einmischte. Doch was er erntete, waren lediglich böse Blicke und weitere rationale Erklärungen der Ärzte. Faiths Eltern bezeichneten ihn als Schuldigen, ihn, der sie in den Abgrund des Komas geführt hatte. Das verletzte Jordan schwer, doch hielt ihn nicht davon ab, sich weiter für sie einzusetzen.

Er schaffte es, sie ein letztes Mal davon zu überzeugen, dass sie noch ein weiteres Jahr warten sollten, dass es um ihre Tochter ging und dass ein Erwachen aus dem Koma möglich ware. Er glaubte fest an dieses Wunder und er wusste, es war alles möglich und der liebe Gott würde Erbarmen mit ihr haben. Am Ende wurde zwischen den Ärzten und den Eltern vereinbart, dass die Maschinen abgeschaltet werden sollten, wenn Faith nach drei Jahren immer noch nicht aus dem Koma erwachen würde.

Für Jordan begannen weitere lange Tage der Angst und des letzten Funkens Hoffnung. Er betete zu Gott, wollte, dass sie aufwachte, doch als weitere Wochen und Monate vergingen und keine Änderung in Sicht war, dominierte das Gefühl der tiefen Angst und des unheilvollen Verlustes.
Was, wenn sie innerhalb der nächsten Monate nicht aus dem Koma erwachen würde? Könnte er einfach dabei zusehen, wie die Ärzte sie ihrem Tod überließen?

Er intensivierte seine Bemühungen, blieb länger bei ihr (solange das Personal es zuließ), erzählte ihr Geschichten, las ihr vor, ließ Musik für sie abspielen, auf der Suche nach einem Schlüsselereignis, das er mit einem Wort, einem Satz oder einem Klang auslösen würde, um sie aus der Welt des Komas holen zu können, doch seine Bemühungen waren vergeblich. Sie schien ihn nicht mehr zu empfangen, ihn nicht mehr zu hören, war fern von seinen Worten. Zwei Monate vor dem Tag, der das dritte Jahr vervollständigen würde, berührte er an einem Tag, wie jedem anderen ihre Hand und sprach wieder zu Faith.

„Faith, bitte hör mir zu. Ich weiß, dass du da bist, an einem Ort, den ich nicht sehen kann, in einem Traum, den ich nicht träumen kann, doch wo auch immer du dich befindest, ich werde dich dort rausholen. Versprochen. Mach dir keine Sorgen, ich werde dich nicht im Stich lassen.“

Weitere Tage vergingen und der letzte Monat vor der geplanten Abschaltung der lebenserhaltenden Maschinen versetzte Jordan in tiefe Depressionen. Mit Emotionen, die er nicht mehr kontrollieren konnte, füllte sich sein Kopf mit schweren Schuldgefühlen. Er konnte sie nicht einfach so gehen lassen. Mit dem Gedanken, dass sie für immer weg sein würde, würde er nicht leben können. So begann Jordan, einen Plan zu schmieden. Wenn der besagte Tag kommen würde und sie noch immer im Koma liegen sollte, dann würde er sie retten. Retten vor der Entscheidung ihrer Eltern und des Krankenhauspersonals, die sie schon längst aufgegeben hatten.

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Thriller: Seelenfall – Der Tag vor der Abschaltung (Episode 29)